
So wird ein Schuh draus
Als man in vielen Firmen noch nicht mal wusste, was Corporate Social Responsibility bedeutet, setzte die US-Schuhfirma Timberland bereits auf soziale Verantwortung – zu besichtigen auch in der Dominikanischen Republik.
Laute Musik schallt aus dem
Gebäude, Menschen lachen, dann
ein Schleifen wie von einer kleinen
Bohrmaschine. Was sich zunächst nach
einer spontanen Party am helllichten Tag
anhört, entpuppt sich beim Betreten der
Fabrikhalle als Arbeit, aber mit Spaß
dabei: Work hard, have fun. „Wir spielen
den ganzen Tag Musik, das ist Teil der
Lebenskultur und hält die Leute bei
Laune“, sagt Alejandro Ordoñana. Der
Mexikaner ist seit gut zwei Jahren
verantwortlich für die acht Werke und drei
Lagerhallen der Firma Timberland in der
Dominikanischen Republik. Seit 1981
produziert der US-Schuh- und -Bekleidungskonzern
im Inselstaat. Er unterhielt
hier lange Zeit die einzige eigene Produktionsstätte
neben produzierenden
Partnerfirmen im asiatischen Raum, erst
2011 kam Haiti dazu. Timberland gilt als
Musterbetrieb, was soziale Verantwortung
angeht. So klingt es überraschend
pragmatisch, wie Ordoñana die Standortwahl
erklärt: „Die Dominikanische
Republik ist eine freie Handelszone mit
günstigen steuerlichen Bedingungen für
die Ausfuhr, die geografische Nähe zum
Heimatland ist von Vorteil, zudem gibt es
gute und günstige Arbeitskräfte.“
Einige von ihnen stehen oder sitzen
gerade an ihren Nähmaschinen, fädeln
Garn ein, rattern über Leder, knipsen
Fäden ab. Andere checken mit geschultem Auge das Rohmaterial, schneiden Teile zu,
stanzen Löcher in das weiche Gewebe.
„Rund 80 Arbeitsschritte sind erforderlich,
bis ein Yellow Boot, das Urmodell, das bis
heute der Verkaufsschlager ist, die Fabrik
verlässt – und sich auf den Weg in die
USA, nach Europa oder Asien macht“,
erklärt Ordoñana. Mit diesem Stiefel
begann vor 40 Jahren der internationale
Erfolg der Schuhfirma, die ihren Ursprung
im notorisch regennassen Neuengland
hat. Die Abington Shoe Company stattete
seit Jahrzehnten die lokalen Arbeiter mit
festem Schuhwerk aus, als Hausmeister
Joe – so will es die Legende – den
Wunsch nach einem wasserfesten Stiefel
äußerte. Sidney Swartz, Schuhfabrikant in
zweiter Generation, hatte fortan schlaflose
Nächte. Jahrelang soll er getüftelt,
Rund 2200 Menschen arbeiten in der Dominikanischen
Republik für Timberland, die Firma gilt
als Vorzeigebetrieb in Sachen soziale und ökologische
Verantwortung – so haben hier gut
100 Mitarbeiter neben dem Schuhhandwerk
auch das Lesen und Schreiben gelernt
experimentiert, verworfen und schon fast
aufgegeben haben – bis er die Lösung
fand: Er ließ die einzelnen Teile nicht mehr
vernähen, sondern verschweißen. Und
siehe da: Die Füße blieben trocken. Der
„Timberland“-Stiefel wurde ein Renner, die
Firma fünf Jahre später, 1978, nach ihm
benannt, und der mittelständische Betrieb
zu einem börsennotierten Weltkonzern mit
5600 Mitarbeitern, privilegierten dazu.
Seit einiger Zeit schon wird Timberland
in den Rankings der besten Arbeitgeber
weit vorn geführt. Das ist vor allem
Sidneys Sohn Jeffrey zu verdanken, der in
den späten neunziger Jahren das Ruder
übernommen hat. Er legte bereits Wert auf
Ethik und Verantwortung, als es den
Begriff Corporate Social Responsibility
(CSR) noch nicht einmal gab. Ein
Einschnitt kam vor gut zwei Jahren, als
das Unternehmen für zwei Milliarden
US-Dollar an den US-Bekleidungsmulti
VF Corporation (The North Face, Lee,
Wrangler) veräußert wurde. Der damals
51-jährige Präsident und CEO setzte sich
zur Ruhe und beschäftigt sich seitdem mit
dem Studium der Tora im Allgemeinen
und Plänen zur Weltrettung im Besonderen.
Manche von Jeffrey Swartz’ Ideen
haben schon früher Früchte getragen: Als
Hurrikan „Katrina“ 2005 New Orleans
verwüstet hatte, waren einige seiner
Mitarbeiter vor Ort und halfen bei den
Aufräumarbeiten, ihr Gehalt wurde
trotzdem weitergezahlt. Und weil Jeffrey
ein Fan von knackigen Slogans ist, hat er
seinem Konzern regelmäßig einen neuen
an die Fahnen geheftet. Unter dem Motto „Don’t tell us it can’t be done“
(„Erzählt uns nicht, es geht nicht“) wurde
weltweit dazu aufgerufen, für den Klimaschutz
einzutreten, mit „Walk the Talk“
(„Lasst Worten Taten folgen“) eine umweltfreundliche
Linie gelauncht, und der Slogan
„Doing well and doing good“ begleitete die
Gründung sozialer Projekte. Dass der
Konzern auch in neuer Eigentümerschaft in
diese Kerbe schlägt, zeigte zuletzt die
Kampagne „Best then. Better now.“, die sich
auf die umweltfreundlichen Wurzeln der
Firma besinnt. Zudem werden alle Mitarbeiter
nach wie vor 40 Stunden im Jahr für
gemeinnützige Arbeit freigestellt und
erhalten 3000 Dollar Zuschuss, wenn sie
sich ein Hybridauto anschaffen. Weiterhin
koordinieren in jeder Niederlassung „Global
Stewards“ diverse Hilfsaktionen – sie
pflanzen Bäume, entmüllen Küstengebiete,
unterstützen Schulprojekte. Apropos Schule:
Mehr als 100 der 2200 Mitarbeiter der
Niederlassung in der Dominikanischen
Republik haben dank betrieblicher Initiativen
schreiben und lesen gelernt. Zu den
Leistungen der Firma gehören medizinische
Versorgung, zinsfreie Darlehen und
finanzielle Hilfen bei der Instandhaltung der
Wohnhäuser der Mitarbeiter.
Einer, der auch davon profitiert, ist Abel
Fernandez. Der 29-Jährige schaut kurz von
seiner Nähmaschine auf. Woran er während
seiner achtstündigen Schicht denkt, wird er
gefragt. Die Antwort: Meist träume er von
einer eigenen Familie, von Frau und Kindern.
Manchmal fliegen die Gedanken weiter,
dann stellt er sich vor, wie er mit den von ihm
genähten Schuhen mitreist, am liebsten in
die USA. Doch dann fügt er mit einem
Seitenblick auf seinen Boss schnell hinzu:
„Vorarbeiter zu werden wäre auch schön.“
Alejandro Ordoñana erzählt ebenfalls
von einer Reise, und zwar jener, die der
Yellow Boot in den Achtzigern antrat. Die
erste Station des gelben Stiefels aus den
USA war ausgerechnet die Schuhnation
Italien, später kamen Großbritannien und
Deutschland als Absatzmärkte dazu. Der
Zufall wollte es, dass das halbe junge
Mailand damals im All-American-Fieber lag.
Die Paninari (von dem Fastfood-Restaurant
Al Panino, vor dem die Subkultur bevorzugt
herumlungerte) hörten die – allerdings
britischen – Pet Shop Boys, trugen Levi’s
und fanden in den Timberland-Tretern die
passenden Schuhe zu ihrem Lifestyle.
In vielen deutschen Städten wiederum
hatten sich Freizeitmokassins von Timberland zur zwingenden Ausrüstung
jedes Poppers gemausert, zusammen mit
Karottenhose, Fiorucci-Pullover und
blondiertem Seitenscheitel. Paninari und
Popper sind längst Geschichte, sie haben
sich zu Yuppies und später zu Familienvätern
entwickelt. Doch die Schuhe mit dem
eingebrannten Baum-Logo tragen viele von
ihnen noch immer. Ob es der demokratischen
Firmenphilosophie entspringt oder
andere Gründe hat – die „Timbs“, wie treue
Anhänger sie nennen, sind in allen
Bevölkerungsschichten vertreten, bei
Bauarbeitern, trendbewussten Akademikern
und unangepassten Hip-Hoppern. Der
amerikanische Rapper und Musikproduzent
Timbaland ist einer der prominentesten
Hardcore-Fans, er hat sich sogar nach
seinen Lieblingsschuhen benannt. Aber
auch das Produktsortiment ist inzwischen
vielfältig: Zu den robusten Schnürlederstiefeln
kamen schon bald sportliche Leder-
Mokassins und schicke Bootsschuhe, ab
1988 auch trendige Outdoor-Bekleidung.
Wichtig war und blieb der Umweltgedanke.
„Timberland ist einer der Vorreiter in
Sachen ökologische Transparenz“, erklärt
Ordoñana, und er kann es sogar beweisen.
Auf der Website wie auch im Schuhkarton
finden sich detaillierte Angaben zu
Herkunft und Herstellungsweise der
Materialien. Das Öko-Vorzeigemodell ist
die Earthkeepers-Linie („Die ersten Boots,
die die Umwelt nicht mit Füßen treten“):
Das Leder ist mit dem goldenen beziehungsweise
silbernen Gütesiegel zertifiziert,
die Sohlen bestehen aus recycelten
Reifen. Für andere Produkte wird Baumwolle
aus biologischem Anbau und Gummi
aus PET-Flaschen verwendet. Timberland
arbeitet mit Hochdruck daran, den Yellow
Boot den sehr hoch gesteckten Nachhaltigkeits-
Richtlinien des Konzerns anzupassen,
beteuert der Mittelamerika-Chef und führt
zur Abteilung „Design your own“.
Knallbunte Farbmuster hängen hier,
Exemplare in wilden Ausführungen stehen
darunter. „Das sind die Kreationen unserer
Konsumenten“, erklärt Ordoñana. Jeder
kann sich am Computer sein Paar ent -
werfen, auch eine individuelle Prägung,
etwa mit den Initialen des Trägers, ist
möglich; drei Tage benötigen die Mitarbeiter
für die Umsetzung.
Das Fabriktor fällt hinter Alejandro
Ordoñana ins Schloss, er erinnert sich an
den Moment, als er zum ersten Mal davor
stand. Aus Ägypten kommend, wo er
bereits für VF gearbeitet hatte, sei er doch
etwas aufgeregt gewesen. „Ich war nicht
sicher, unter welchen Bedingungen die
Menschen hier arbeiten. Aber als ich die
Musik gehört habe und die fröhlichen
Gesichter sah, wusste ich: Das ist ein guter
Job, für sie – und für mich.“
Erschienen in: Lufthansa Exclusive 1/14
Foto: Timberland