
Natürliche Roh-Stoffe
Rhabarber als Bio-Gerbstoff, Schmuck aus Fischabfall, Schuhe aus PET-Flaschen – die Mode der Zukunft gewinnt Materialien aus Hightech-Recycling.
Anne-Christin Bansleben nimmt ein taschentuchgroßes
Stück Leder von ihrem Gesicht und streicht
mit den Fingern über die hellbraune Oberfläche:
„Es duftet dezent fruchtig“, sagt sie, „und angenehm
weich ist es auch.“ Sie ist sichtlich stolz auf das Resultat
der mehr als vier Jahre andauernden Forschungszeit. Im
Homeoffice in ihrer Leipziger Dachgeschosswohnung erzählt
die promovierte Ökotrophologin vom Clou, den sie gemeinsam
mit ihrem Ehemann und dem Biochemie-Professor Ingo
Schellenberg gelandet hat: Erstmals – und als weltweit bislang
Einzigen – ist es dem Forscher-Trio gelungen, einen Extrakt
aus der Rhabarberwurzel zu gewinnen, mit dem man Tierhaut
gerben kann. „Proteine müssen so umgewandelt werden,
dass der Verderbungsprozess gestoppt wird“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Dieses pflanzliche Verfahren bietet erhebliche
Vorteile gegenüber der sonst verwendeten, mittlerweile stark
umstrittenen mineralischen Variante mit Chromsalz. Es schont
Umwelt, Tiere und Menschen.
Das ist genau die Kerbe, in die immer mehr kleine Modelabels
schlagen. Sie wollen nicht nur schöne, sondern mit
gutem Gewissen produzierte Ware verkaufen. Und gehen dafür
ungewöhnliche Wege. So etwa die Mikrobiologin Anke
Domaske aus Hannover, die unter dem Label QMILK Basic-
Teile aus einem Abfallprodukt der Milch produziert. Oder die
Schweizerin Jana Keller, die unter dem Label Royal Blush aus
Bio-Lachshaut Schmuck herstellt. Das britische Zwei-Frau-
Unternehmen Beyond Skin wiederum fabriziert aus recycelten
PET-Flaschen, Blumentöpfen und Autoreifen Pumps, die bei
Stars wie Natalie Portman, Anne Hathaway und Leona Lewis
neben den Manolo Blahniks stehen. Womit die Hochzeit der
Ökomode wohl offiziell eingeläutet wäre.
Ökologische Steinzeit hingegen herrschte, als das Ehepaar
Bansleben und der Professor 2005 an der Hochschule Anhalt
am Institut für Bioanalytik begannen, dem Rhabarber seine
Gerbstoffe zu entlocken. „Wir wussten, dass sie da waren. Nur
hatten wir keine Ahnung, welche Bestandteile in welcher Kombination
und in welcher Konzentration funktionieren“, erzählt
die Forscherin. 40 verschiedene Sorten haben sie unter die
Lupe genommen. Welche das Rennen gemacht hat, will sie
nicht verraten. Firmengeheimnis. Sein Verfahren hat das Team
markenrechtlich schützen lassen.
Was als Projekt gestartet war, mündete 2010 in die Gründung
der Firma deepmello, und Anne-Christin Bansleben
tauschte den Laborkittel mit der Mädchen-für-alles-Schürze.
Die Ernährungswissenschaftlerin vertritt das Unternehmen
nach außen, ist Ansprechperson für Lieferanten und Kunden,
koordiniert die Produktionsabläufe und zieht auch sonst alle
Fäden, während die Männer weiterforschen. „Wir wollten
nicht, dass ein so revolutionäres Verfahren in irgendeiner
Schublade endet. Also haben wir die Umsetzung selbst in die Hand genommen. Zu sehen, wie die eigene Idee wächst
und gedeiht, ist sowieso am schönsten“, sagt sie. Das Feld dafür
wird ausschließlich in Deutschland bestellt. Nahe Magdeburg
wird der Rhabarber angebaut, die Häute stammen aus
Bayern, aus heimischer Nutztierhaltung. „Made in Germany
war uns als Qualitätsmerkmal wichtig“, so Anne-Christin Bansleben.
„Die Wege sind kurz, und man findet Geschäftspartner,
die auch ideologisch unsere Sprache sprechen.“
Kein beißender Geruch, keine bedenklichen Schadstoffe,
das Trio wusste, dass die Textilindustrie auf diese Entwicklung
gewartet hatte. Damals wie heute wird zu 90 Prozent mit
Chrom gegerbt. „Das Chromsalz wird im Tagebau in Asien und
Afrika abgebaut, was Landenteignungen und Grundwasserabsenkungen
zur Folge hat“, erklärt die Expertin. Dazu komme
der hohe Energieaufwand zur chemischen Umwandlung des
Rohmaterials. Bei nicht fachgerechtem Einsatz des Gerbstoffs
könne zudem Chrom 6 freigesetzt werden, das nachweislich
krebserregend sei.
Das Gerben und der Vertrieb des Leders war für deepmello
nur der Anfang. Ein Jahr nach der Markteinführung entwickelte
das Start-up-Unternehmen bereits die erste eigene
Linie aus Kleidern und Accessoires wie Sandalen und Reisegepäck.
Inzwischen gibt es Damen- und Herrenprodukte in
sechs Farbtönen. „Wir wollten zeigen, was Rhabarberleder alles
kann. Bekehren wollen wir niemanden“, sagt Anne-Christin
Bansleben. „Dass wir nachhaltig produzieren, ist für uns das
Tüpfelchen auf dem i. Vorrangig wollen wir Fashion-People
überzeugen, die nach optischen Kriterien entscheiden.“
Die Entwürfe stammen zumeist von Gast-Designern wie
der Berlinerin Anne Gorke, die auch den deepmello-Bestseller
kreierte – eine rechteckige schwarze Tasche aus Canvas
mit Lederfassung. Canvas? „Ja, wir verwenden neben Leder
auch Materialien wie Organza und Seide, die ebenfalls nach
streng ökologischen Kriterien hergestellt werden“, sagt die Geschäftsführerin,
öffnet den Big Business Shopper und zeigt auf
das verstärkte Fach in der Mitte, das Notebook und Papiere
schützt und mit einem Lederbändchen verschlossen wird. Zu
kaufen gibt es ihn im Onlineshop des Labels (www.deepmello.
com). Manche Teile sind zudem in ausgewählten Läden wie
dem Glore in Hamburg und München, dem Lieblingsstyle in
Ingolstadt und dem Soulid in Darmstadt erhältlich. Die Preisrange
reicht von 20 Euro für einen Schlüsselanhänger bis zu
1000 Euro für eine Lederjacke.
Schon bald müssen die Artikel in den Regalen zusammenrücken,
denn die nächste Entwicklung ist bereits in der Mache.
Anfang kommenden Jahres soll das erste Beauty-Produkt
lanciert werden, an dem die Forscher derzeit tüfteln: In der
oberirdischen Blattmasse des Rhabarbers haben sie einen Anti-
Aging-Inhaltsstoff entdeckt. Die Blütezeit des Gemüses dürfte
also noch eine Weile andauern.
Erschienen in: Emotion Slow 2/14
Fotos: beigestellt