
Mitten in Ghana
Mitreißende Trommelrhythmen, ekstatische Tänze und beschwörende Zauberformeln: Wer nach Westafrika kommt, kann sein tägliches Wunder erleben. Eine persönliche Reise quer durch Ghana, in die Tiefen einer faszinierenden Kultur.
„Du bist eingeladen“, ruft ein
etwa 25-Jähriger und tunkt
seine Hand in die Metallschüssel,
die vor ihm auf dem
improvisierten Tisch steht. Ein
Dutzend Männer fischt in
derselben rotbraunen Soße und
holt mal Fufu, einen Maniokbrei,
mal Fleischstücke heraus. Eine
wildfremde Passantin zum
Essen einladen? In Europa
kaum vorstellbar, in Westafrika
selbstverständlich. Unter dem
Lachen der Gastgeber führe ich
die klebrige Masse zum Mund.
Lecker! „Wo kommst du her?
Wo willst du hin?“ Diese Fragen
kenne ich gut. Meine stete
Antwort: Vor einem Jahr habe
ich meinen Job quittiert, meine
Wohnung in Wien aufgelöst und
bin nach Ghana gekommen. Mit
der Aufgabe, für das Entwicklungshilfe-
Projekt AfreakMed
herauszufinden, was Müttern
helfen könnte, ihre Babys über die kritische Ein-Jahres-Marke zu
bringen. Bei meinem ersten Besuch im nördlichen (und ärmsten)
Teil des Landes hatten sich die Frauen des Dorfes versammelt, um
mir Auskunft zu geben. „Suhuyini“ haben sie mich an diesem Tag
getauft, „Gutes Herz“. Inzwischen ist die Arbeit beendet, mein
Jahresvisum läuft bald ab, eine zweiwöchige Abschiedstour liegt
vor mir. Von der Hauptstadt an der Südküste will ich quer durchs
Land an die Grenze zu Burkina Faso im Norden fahren – und retour.
Accra ist laut, Accra stinkt, Accra ist aber auch lebendig und
liebenswert. Eine echte Geduldsprobe ist der „Kunstmarkt“. In
Bretterverschlägen türmen sich Perlenketten und Silberschmuck,
Holzschnitzereien und bunte Stoffe. Jeder fasst mich am Arm
und will mich in sein „Geschäft“ zerren. Nur Alhassan nicht. Der
31-jährige Ghanaer hat in Göteborg gelebt und Musikstudenten
dort das Trommelbauen beigebracht; er weiß, wie Europäer ticken.
Und so bekomme ich eine Djembe-Vorführung geboten. Unglaublich,
welche kraftvollen Rhythmen Alhassan mit sanften Schlägen
dieser Trommel entlockt. Und ich tanze dazu. Ein paar Schritte
Sinté, dann Bewegungen des Kpalungu-Tanzes. Obwohl allein
schon die Größe meines wackelnden Hinterteils nicht an das hiesige
Schönheitsideal herankommt, jubeln die Zaungäste. Kurz vor
Sonnenuntergang verabschiedet sich der gläubige Moslem Alhassan.
Allah erwartet ihn zum Gebet.
Am nächsten Morgen steige ich in den Bus nach Akosombo.
Obwohl der Name der Stadt ziemlich funktionell als Synonym
für „Staudamm“ verwendet wird, ist sie für mich die schönste des
Landes. Nicht der Architektur, sondern ihrer Lage wegen. Eingebettet
in die von tropischem Regenwald überzogenen Akwamu-
Berge, liegt sie am Ufer des Sees. Ich mache eine Bootstour zur
Staumauer, die in den sechziger Jahren den weltweit größten von
Menschenhand erschaffenen See entstehen ließ. Obwohl die Fähre
erst um 14 Uhr ablegen soll, stehe ich tags darauf nach dem
Frühstück am Hafen – ich will die einzige Kabine an Deck ergattern.
Als die Sonne schon untergegangen ist, dürfen wir endlich an
Bord. Ich stelle fest, dass ich der einzige „Schnösel“ bin, der es
auf die Stockbett-Kajüte abgesehen hat. Die Einheimischen schlafen
auf Bänken, eine Gruppe deutscher Rasta-Teenager macht
sich auf Schlafsäcken an Deck breit. Am Morgen haben wir die
Berge und Wälder weit hinter uns gelassen, nur noch Wasser, so
weit der Horizont reicht. Ein bis zwei Tage kann so eine Überfahrt
dauern, abhängig von der Strömung und den Ein- und Ausladezeiten
von großen Mengen an Trinkwasser in Plastiktüten, Yamswurzeln
in Nylonpaketen – und einem Panzerfahrzeug. Es ist vier Uhr
morgens in der folgenden Nacht, als ich aus dem Schlaf gerissen
werde: „Yeji, alles aussteigen!“
In einem Ruderboot, das in meinen Augen Platz für höchstens
50 Personen hat, werde ich mit gefühlten 500 anderen Menschen
samt Kleinvieh und Gepäck ans andere Ufer gebracht. Fünf
Stunden Fahrt im Minibus liegen vor mir. Mein Ziel ist Tamale, die
Hauptstadt der Northern Region, in der ich den größten Teil dieses
Jahres verbracht habe. Der Anblick der staubigen Straße wird nur
von ausgetrockneten Bäumen, winkenden Schulkindern und ein paar Männern auf Fahr- [e]
rädern unterbrochen. Als wir
Tamale erreichen, komme ich
nach Hause: zu meinen Freunden,
meinen Stammlokalen,
meinem Dorfladen und meinen
eigenen vier Wänden. „Suhuyini,
Suhuyini“, rufen die Kinder von
Weitem. Sie nehmen mir die Taschen
ab und prügeln sich darum,
wer sie tragen darf. Als ich
die Tür aufsperre: ein Schock.
Mein Bett samt Laken und Kissen
ist verschwunden! In dieser
Nacht schlafe ich auf meinem
zerschlissenen Sofa.
Am nächsten Tag erfahre
ich, dass die Nachbarin ihre
Zwillinge geboren hat, und die
hätte sie ja schlecht auf dem
Fußboden entbinden können.
Aber dennoch: Meine Rückkehr wurde freudig erwartet, die
Namengebungszeremonie für die Neuankömmlinge soll gemeinsam
mit meinem Abschied gefeiert werden. Während die
Kleinen mal brüllen, mal friedlich vor sich hindösen, essen,
trommeln und tanzen die Gäste und ich bis nach Mitternacht.
Schweren Herzens sage ich in dieser Nacht Auf Wiedersehen
zu meiner „afrikanischen Familie“ und zu zwölf Monaten ohne
Stress, Leistungsdruck und Minusgraden. Bevor es zurück in
den Süden und nach Hause geht, will ich aber noch zum nördlichsten
Zipfel Ghanas, nach Bolgatanga, und den berühmtesten
Voodoo-Priester des Landes treffen. Naturreligionen praktizieren
hier viele, dieser Mann soll jedoch, sagt man, einen
besonders guten Draht zu den Göttern haben.
Auf einer Mauer vor meinem Gästehaus in Bolgatanga:
„Tidzima“, sagt ein junger Mann, greif zu, und streckt mir eine
Handvoll Nüsse entgegen. Ich bedanke mich mit einem „Nawimi
dimi suhugu“ – Gott segne dich. Er zeigt auf den Reiseführer,
der neben mir liegt. „Ich stehe in diesem Buch“, lässt er mich
auf Englisch wissen. Ich nicke anerkennend. Wenig später steht
fest, dass Mohammed, der einzige Touristenführer Bolgatangas
mit Weltruhm, mich zum Götterfreund bringen wird. In dieser
Nacht wälze ich mich im Bett. Überlege, worum ich den Priester
bitten könnte. „Suhuyini“, ruft jemand und poltert gegen die Tür.
Es ist Mohammed, ich habe verschlafen! Schnell ziehe ich ein
Kleid über und schlüpfe in meine Leder-Flip-Flops. Auf der Fahrt
ins Städtchen Tengzug wird mir schlecht. Weil Mohammed so
fährt, wie er spricht: rasend schnell. Bei ein paar Steinbauten
halten wir an. Im Zentrum steht das Haus des Priesters, der hier
mit seinen 20 Ehefrauen, 300 Verwandten und unzähligen Gottheiten
lebt. Zwischen Dezember und März pfeift der Wüstenwind
aus der Sahelzone durch die Steinritzen – dann könne
man die Götter hören, schwören die Einheimischen.
Über Lehmbauten mit niedrigen
Eingängen hängen Tierknochen,
Federn und seltsame
Tücher. „Das sind Schreine“, erklärt
Mohammed, „zu besonderen
Anlässen kriecht der Priester
hinein, spricht mit den Gottheiten
und gibt ihnen Tieropfer.“
An kleinen Feiertagen seien
es Hühner, an größeren Schafe,
und wenn es wirklich ernst
sei, eine Kuh. Wir klettern auf
einen Hügel. Der Blick auf das
umliegende Hochland ist atemberaubend.
Mohammed zieht
mich weiter. Bis zum imaginären
Stoppschild. Das dürfen Männer
wie Frauen nur mit blankem
Oberkörper passieren, das habe
die mächtige Gottheit Ba’ar
Tonna’ab Jaa-re vor Hunderten
von Jahren so beschlossen. Insgeheim vermute ich einen
Marketing-Gag hinter diesem Tamtam. Auf allen vieren kriechen
wir in eine Felsspalte. Der Voodoo-Mann sitzt schon da, auf
dem Boden, ein Berg Federn dient ihm als Sitzkissen. Er lächelt
freundlich. Ich solle an das denken, was ich mir wünsche,
während er seine Zauberformeln murmelt und einen Pferdeschwanz
schwingt. Rasch ist der Spuk vorbei. Ich gebe ihm ein paar Cedis, umgerechnet
fünf Euro. Geht mein
Wunsch in Erfüllung, möge ich
wiederkommen und was drauflegen.
Wie gut das funktioniert,
zeigt, dass der Meister sechs
Autos besitzt.
Schon bald träume auch
ich von einem eigenen Wagen.
Die 14-stündige Busfahrt an die
Küste ist eine Strapaze. Selbst
Ohropax hilft nicht gegen die
laute Hip-Hop-Musik, und schon
gar nicht gegen die nigerianischen
Horrorfilme, die von den
Mitreisenden mit Schreckensschreien
kommentiert werden.
Das Paradies ist aber nicht mehr
weit. Es liegt zwei Stunden von
Accra entfernt, versteckt hinter
dem Fischerdorf Ampenyi bei
Elmina. Die Niederländer Nol und Annelies van de Mast führen
hier das Beach-Resort Ko-Sa, sie empfangen mich wie eine alte
Freundin. Einfache Bungalows, köstliches Essen, rauschender
Atlantik. Am Morgen meines Abflugs spaziere ich am Strand,
Salzwasser umspielt meine Füße. Nawimi dimi suhugu, Ghana!
Ich komme wieder. Spätestens wenn die Zahlstunde beim
Priester ansteht – Voodoo-Schulden sind Ehrenschulden.
Erschienen in: Lufthansa Magazin 11/12
Foto: Andreas Jakwerth