
Abenteurer aus Leidenschaft
Stefan Glowacz ist der erfolgreichste deutsche Kletterer. Einmal im Jahr bricht er zu neuen Expeditionen in menschenfeindliche Gebiete auf. Je schwieriger die Bedingungen, desto so größer ist für ihn der Reiz.
Mit Schwung wuchtet
er eine schwere Box
in den Kofferraum,
dann einen See- und
einen Tagesrucksack.
In Gedanken geht Stefan Glowacz noch
einmal die finale Checkliste durch. Am
Ende werden es rund 200 Kilogramm
Gepäck sein, die den drahtigen Mann
mit den dunklen Locken auf seiner Reise
begleiten: Karabiner, Bohrmaschinen,
Haken, Gurte, Seile, Trockennahrung,
Satellitentelefon, Ladegeräte, Notizbuch,
Fotos von Frau und Kindern. „Alles was
ich jetzt vergesse, werde ich später bitter
bereuen“, sagt der Extremsportler. Denn
an dem entlegenen Ort, den er ansteuert,
gibt es keine Outdoor-Sportgeschäfte
Glowacz nimmt eine große Mannschaft
mit. Mehr als zwanzig Personen: Kameraleute,
Tontechniker, Sicherungspersonal.
Sein einmaliges Vorhaben soll schließlich
gebührend dokumentiert werden. „So
etwas Verrücktes macht man kein zweites
Mal.“ Der Schauplatz des Geschehens:
die Höhlen von Majlis al Jinn im östlichen
Teil des Hadschar Gebirges im Oman. Die
Route ist extrem lang, schwer und steil.
In den Krater hineingesprungen sind
zwar schon ein paar adrenalingesteuerte
„Basejumper“, aber die ließen sich dann
an Seilen wieder hochziehen, herausgeklettert
ist noch keiner.
Ein Jahr lang hat der Ausnahme-Athlet
Glowacz mit seinem Team daran gearbeitet,
das zu schaffen. Zwei Mal war er im
Land, um das einmalige Objekt zu begutachten.
„Die Oberflächenstruktur muss
passen. Wir wollen ja nicht einen Haken
nach dem anderen in die Wand bohren
und uns aus der Höhle herausnageln. Die
Haken dienen lediglich zur Sicherung,
geklettert wird frei.“ Nach der Erkundung
begann dann die Planung: die Finanzierung,
Logistik, das Training und die Beantwortung
vieler Fragen: Wie viel Wasser
braucht es? Wie sind die Temperaturen?
Wie kann die Ausrüstung vor Diebstahl
geschützt werden?
Kurz drückt Glowacz seine Frau und die
drei erwachsenen Kinder aus erster Ehe.
„Für sie sind meine Abreisen längst Normalität,
das ist kein großes Drama.“ Und
auch für ihn ist die Fahrt zum Münchner
Flughafen Routine. Jetzt heißt es nur noch
Gepäck einchecken, Sicherheitsschleuse
passieren, dann bleibt der Alltag zurück.
Das Abenteuer kann beginnen – bei einem
Weißbier, das ist bei dem Kletterprofi
Tradition.
Stefan Glowacz hat in seiner 35-jährigen
Sportler-Karriere schon viele
Abenteuer erlebt. Mit 15 fing er mit dem
Klettern an, innerhalb kurzer Zeit schaffte
er es an die Weltspitze. Mit 22 gewann er
den prestigeträchtigen „Rockmaster“ im
italienischen Arco. Zwei mal konnte er
den Titel verteidigen. Doch schnell wurde
dem charismatischen Mann die Welt der
Bohrhaken zu klein. Er wollte etwas ganz
Neues entdecken. Und so wandte er sich
ab 1993 den entlegensten Felswänden
in den unwirtlichsten Gegenden zu.
Zahlreiche Erstbegehungen hat er seitdem
geschafft, als unbezwingbar geltende
Routen gemeistert, die bis heute niemand
zu gehen gewagt hat. „Vom Winde
verweht“ taufte er die Route am Murralòn
in Patagonien, „Behind the Rainbow“ den
Aufstieg zum sagenumwobenen Tafelberg
Roraima in Venezuela.
Seine Reisen finanziert der Globetrotter
durch journalistische Tätigkeit, Vorträge
und Filme. Zudem ist er Mitbegründer
der Firma „Red Chili“, die Kletterschuhe
und fürs Klettern geignete Bekleidung
herstellt. Sein Unternehmertum lässt sich
mit dem Unternehmungsgeist perfekt verbinden.
Er selbst ist sein bester Werbeträger,
wenn er einmal pro Jahr für sechs bis
acht Wochen zu neuen Ufern aufbricht.
Glowacz prägte den Grundsatz „by fair
means“ neu. Ohne technische Hilfsmittel
strebt er vom letzten Zivilisationspunkt
an sein Ziel. Mit dem Segelschiff in die
Antarktis, auf Skiern über die Eisfelder,
auf dem Einbaum durch den Dschungel.
„Take The Long Way Home“ hat er die
Route auf Baffin Island – nach einem Song
von Supertramp – genannt, 400 Kilometer
musste er durch kanadischen Schnee und
Eis zurück in die Zivilisation.
Auf dem Flug in den Oman versucht der
Glowacz zu schlafen. Doch die Gedanken
kreisen. Er spult das bevorstehende Abenteuer
im Kopf ab. Visualisieren nennt er das. Und erklärt, warum das so wichtig ist.
„Du gehst alle Eventualitäten der Unternehmung
durch. Bereitest dich mental auf
die Naturgewalten vor, die dich erwarten
werden. Wenn du tagelang nur weiße
Wüste siehst, dich nachts mit deinen
Begleitern in ein Zelt kauerst und das
Gestänge festhalten musst, damit es nicht
davonfliegt, kann es sein, dass du daran
zerbrichst. Je mehr du dich darauf vorbereitest,
um so weniger überrascht und
überwältigt bist du. Und du solltest dir im
Vorfeld überlegt haben: Was machen wir,
wenn das Zelt wirklich fortgerissen wird?“
Stefan Glowacz ist kein Hitzkopf, eher
nüchtern und analytisch. Bevor eine
Aktion außer Kontrolle gerät, bricht er sie
lieber ab. Dennoch beschreibt er jeden
Aufbruch in ein unbekanntes Gebiet als
einen mutigen Aufbruch zu sich selbst.
„Mir gefällt diese Ungewissheit, dieser
Aufbruch in menschenfeindliche Regionen.
Das hat für mich nichts Bedrohliches,
ich nähere mich ihnen so behutsam
und professionell wie möglich.“ Entspannungstechniken
brauche er nicht.
„Klettern ist wie Meditation. Du wirst
gezwungen, Körper und Geist in Einklang
zu bringen. Du kannst die größte Kraft haben,
wenn du unkonzentriert bist, kriegst
du diese Power nicht an die Wand. Dann
wirst du immer wieder scheitern.“
Auf dem Flughafen in Muscat erwartet
den Deutschen schon Kletterpartner
Chris Sharma, der aus den USA angereist
Für die Restauration moderner Kunstwerke
werden nicht nur Pinsel, sondern auch textile
Werkstoffe und Chemikalien benötigt
ist. Der 33-Jährige ist, was Glowacz in seinem
Alter war, der weltbeste Mann an der
Felswand. Neidisch auf die Jugend ist der
Veteran aber nicht: „ Klar würde ich mir
wünschen, einen zwanzigjährigen Körper
zu haben, aber vom Kopf her möchte ich
keinen Tag jünger sein.“ Das sei nun mal
das Gesetz des Hochleistungssports, sagt
er, „dass immer Bessere nachkommen. Ich
sehe das gelassen.“ Diese Gelassenheit,
wird er in wenigen Tagen eindrucksvoll
unter Beweis stellen.
Mit einem Geländewagen geht es durch
das steinige Gelände der Wüste über eine
steile Schotterstraße auf 1000 Meter Höhe.
Nach rund vier Stunden klafft ein riesiges
Loch im Boden. Der Abgrund gibt den
Blick auf eine unterirdische Höhle frei.
Gemeinsam seilen Glowacz und sein Partner
sich 160 Meter ab, über ihnen spannt
sich eine riesige Fels-Kathedrale. Sie werden
in den nächsten Tagen vom tiefsten
Punkt zurück ans Licht klettern. Die Route
beginnt bereits überhängend, ein gutes
Stück werden sie kopfüber an der längsten
Fels-Decke der Welt hängen. Stück für
Stück hanteln sie sich nach oben.
Doch am dritten Tag ereignet sich ein
Missgeschick. Ein Anfängerfehler, der
eigentlich nicht passieren dürfte. Glowacz
will sich an einem Vorsprung hochziehen,
rutscht ab und fällt. Reflexartig greift er
ins Stahl-Seil und gleitet daran einige
Meter in die Tiefe. Beide Hände sind bis
aufs Fleisch offen. Zeit, um die Wunden
auszukurieren, gibt es nicht. Also was
tun? Abbrechen? Einige Minuten lang
geht Glowacz in sich, ärgert sich über das
Malheur, freut sich aber auch, dass nicht
mehr passiert ist und beschließt weiter zu
machen. „Es hätte zu viel auf dem Spiel
gestanden, zu viel Arbeit, Zeit und Energie
hatten wir schon in das Projekt investiert.“
Die Folge ist allerdings, dass ab sofort der
Jüngere die Führung übernimmt.
Der Moment, als die beiden nach 12
Tagen „Into the Light“ kommen, wie
sie die Strecke später nennen werden,
empfinden die beiden Extremsportler als
magisch. „Vom Erdinneren aus ans Tageslicht
zu klettern ist das Beeindruckendste,
was ich je erlebt habe“, sagt der Mann,
der sonst kaum Gefühlsregungen zeigt.
Überhaupt seien es solche Augenblicke,
die er als wahren Reichtum empfindet.
„Die können auch ganz banal sein: ein
atemberaubender Sonnenuntergang, eine
tolle Wolkenformation. Du merkst wie
wenig du brauchst, um glücklich zu sein.
Ein sicherer Lagerplatz, ein trockener
Schlafsack, eine warme Mahlzeit, und
wenn dann einer ein Stück Schokolade
rauszaubert – das ist der Himmel."
Die Gruppe wird noch ein paar Tage im
Land bleiben, das Erlebte sacken lassen.
Zuhause wartet das normale Leben.
Rechnungen, die Familie, der Berufsalltag
als Vortragsredner. Ein sicherer Hafen,
der dem Abenteurer den nötigen Rückhalt
gibt. „Allein der Gedanke, dass ich
wieder aufbrechen kann, diese Freiheit, zu
haben, ist unbezahlbar. Das Weggehen ist
keine Flucht. Ich tobe mich aus, führe den
Tiger in mir spazieren und komme dann
gerne wieder nach Hause zurück.“
Erschienen in: Valua 1/15
Fotos: Klaus Fengler