
Ist essen gefährlich?
Essen soll satt machen und schmecken? Das war einmal. Längst ist die Frage nach der richtigen Ernährungsweise zum Politikum geworden. Aber ist Fleischkonsum wirklich böse? Macht Weizen tatsächlich krank? Und müssen Lebensmittel zwingend einen Zusatznutzen bringen? Eine kleine Orientierungshilfe im Labyrinth der Ernährungsideologien.
Kathrin B. feiert heute ihren
32. Geburtstag. Mit
dem Liebsten beim Italiener.
Weil sie zur Feier des
Tages Rotwein trinken
will, schluckt sie vor dem
Essen zwei Pillen. Die
eine gegen ihre Histamin-Intoleranz,
die andere, um die Fruktose-Überempfindlichkeit zu lindern. Würde
sie nichts einnehmen, müsste sie ihre
kleine Sünde mit Durchfall, Blähungen
und Kopfschmerzen bezahlen.
Am Nachbartisch sitzt Martina K.
mit ihrer Mutter. Die 25-Jährige studiert
seit zehn Minuten die Speisekarte,
ihr Gegenüber rollt mit den
Augen. Tiere hat Martina schon als
Kind geliebt. Seit ihrem 13. Lebensjahr
verzichtet sie auf Fleisch, der
„Vortrag 101 Gründe vegan zu leben“,
den sie auf YouTube gesehen hat, hat
sie auch noch Eier und Milcherzeugnisse
von ihrem Speiseplan streichen
lassen. „Normalerweise kein
Problem“, sagt die Studentin, aber
im Restaurant sei es ihr schon mal
peinlich, nachzufragen, ob im Dessert
wirklich keine Kuhmilch ist. Sie
entscheidet sich – mal wieder – für
einen Salat. Ihre Mutter ist genervt.
Sabine K. bestellt eine Pizza Calamari.
Wegen des schlechten Gewissens,
damit mal wieder über die Stränge
geschlagen zu haben, wird die 57-Jährige
die nächsten Tage nur Gemüse-Säfte trinken.
Als Zeuge solcher Alltagssituationen wird
man das Gefühl nicht los, dass Menschen
Angst vor dem Essen auf ihrem
Teller haben. Sie benehmen sich, als
lauere Gefahr – für die Gesundheit, die
Figur, das gute Gewissen. Ein Trend,
den auch die Ernährungswissenschaftlerin
Hanni Rützler festgestellt hat. Im
Buch „Muss denn Essen Sünde sein?
Orientierung im Dschungel der Ernährungsideologien" (Brandstätter
Verlag, € 19,90) schreibt sie: „Lebensmittel
werden zunehmend nicht mehr danach ausgewählt, ob sie
schmecken, sondern ob sie bestimmte
Inhaltsstoffe enthalten.“
Auch in den Medien gibt es fast wöchentlich
neues Futter für Nahrungsängstliche:
Kohlehydrate sollen träge
und depressiv machen, Hühnerfleisch
sei mit Antibiotika und Gemüse mit
Pestiziden verseucht, Menschen, die
sehr viel Kuhmilch trinken, würden
früher sterben und der regelmäßige
Konsum von Tofu beeinträchtige
die Fruchtbarkeit von Männern. Unbeschwert
im Restaurant bestellen,
worauf man gerade Lust hat, tun die
wenigsten.
Mit dem Wohlstand der Nachkriegszeit
und der Industrialisierung der
Nahrungsmittelproduktion wurde
ausschweifendes Ess-Verhalten für
eine breite Schicht leistbar – mit
dem Effekt, dass die Menschen selbst
auch ständig breiter wurden und
Bluthochdruck, Gicht, Diabetes und
Herzleiden zunahmen. Dazu kommt:
Die Zahl der Berufstätigen stieg, die
Zeit wurde knapper. Tiefkühlpizza
und anderes Fast Food avancierten
zum beliebten Sattmacher.
„Die Hälfte dessen, was die Menschen
heute verzehren, ist künstlich
aromatisiert“, schreibt Hans-Ulrich
Grimm in seinem Buch „Die Suppe lügt" (Droemer Knaur, € 18,50). Hummergeschmack
gäbe es als Pulver, Huhn
für Päckchensuppe als Kügelchen. So
war es nur eine Frage der Zeit, bis diese
Mogelpackungen nicht mehr allen
schmeckten. Vor allem das Bildungsbürgertum
rümpfte die Nase. Viele
greifen inzwischen lieber zu frischen
Bio-Produkten vom Wochenmarkt als
in die Tiefkühltruhe im Supermarkt.
Auch das Thema Fleischverzicht war
spätestens nach Skandalen um hormonverseuchtes
Mastvieh und Pferdeteile
in Tiefkühllasagne in der Mitte
der Gesellschaft angekommen. Zu
den linken Schlapfen-Ökos, die den
Fleischverzehr schon länger aus Protest
boykottierten, gesellten sich besserverdienende
Akademiker, die vor
allem ihrem Nachwuchs einen möglichst
schadstofffreien Start ins Leben
ermöglichen wollen. Urbane Gemüsegärten,
vegane Restaurants und
sogenannte „Free from ...“-Produkte
sprießen seitdem wie Pilze aus dem
Boden. Allein hierzulande hat die
Zahl der vegan oder vegetarisch Lebenden
zwischen 2005 und 2013 um über 200 Prozent
zugenommen. Inzwischen zählen 2,9 Prozent
der Bevölkerung dazu.
Einer der Stars dieser Entwicklung
ist Attila Hildmann. Der Kochbuchautor
mit der Figur eines jungen Gottes hat schon über 100.000 Exemplare
seines "Vegan for Fit"-Ratgebers
verkauft. In seinem Blog zeigt er
Bilder von sich aus einer Zeit, als er
noch Fleisch gegessen hat. Er hat eine Wampe, sein Blick ist trüb, er steht
unbeholfen herum. „So ungefähr
wird der Fleischesser heute gesehen:
übergewichtig, etwas stumpfsinnig,
in jedem Fall nicht auf der Höhe der
Zeit“, wie Elisabeth Raeth im ZEIT
Magazin formulierte.
Sind Fleischesser verwerfliche Zeitgenossen?
Wer nicht nur Pflanzen, sondern auch
Fleisch isst, dem bleibt ein einziges
Argument: Es schmeckt. Denn auf
den ersten Blick scheinen die Verweigerer
alle Argumente auf ihrer Seite
zu haben, das Wohl der Tiere, die Umwelt,
die eigene Gesundheit.
Doch bei genauerem Hinschauen
ist der Sachverhalt nicht ganz so eindeutig:
Die Schönheits- und Gesundheitsvorteile
der Asketen sind nicht
zu beweisen, Datenerhebungen haben gezeigt, dass es gegenüber Menschen,
die wenig Fleisch- und Wurstwaren
essen, keine Unterschiede gibt.
Im Gegenteil: Eine vegane Ernährung,
sofern nicht sehr bewusst gestaltet,
soll nicht selten zu Mangelerscheinungen
führen. Daniel L. Katz,
Leiter des Präventions-Zentrums für
chronische Erkrankungen an der Yale-
Universität, sagt: „Es ist gesund, kein
Fleisch zu essen. Wenn man das richtige
Fleisch isst, ist das genauso gesund.
Gutes Fleisch stammt von Tieren,
die Gras und wenig Kraftfutter
gefressen haben.“
Was vielen nicht klar ist: Vegetarisches
bzw. veganes Essen ist nicht automatisch
biologisch, wohltuend und
kalorienarm. So hat etwa der österreichische
Verein für Konsumenteninformation Fleischersatzprodukte wie
Tofu-Würstchen untersucht und festgestellt,
dass viele dieser Speisen einen
extrem hohen Anteil an Fett und
Salz sowie Aromen, Geschmacksverstärkern
und Zusatzstoffen enthalten.
Lauter Ingredienzien, die u.a. für
die Zunahme von Verdauungsproblemen
mitverantwortlich sind.
Macht uns Weizen krank? Genau wie Geburtstagskind Katrin B.
leiden 30 Prozent der Erwachsenen
an einer Nahrungsmittelunverträglichkeit
oder glauben zumindest, dass
es so ist. Jedes Grummeln im Magen,
jedes Ziehen im Bauch wird als möglicher
Hinweis darauf bewertet. Auch Nüsse, Milch und Äpfel stehen
bei vielen unter dem Generalverdacht,
krank zu machen. Wissenschaftliche
Studien, die belegen würden, dass
Nahrungsmittelintoleranzen und/oder -allergien in der Bevölkerung
tatsächlich zunehmen, sind jedoch
rar. Ist das Phänomen also eine bloße
Modeerscheinung, so wie die Low-
Carb-Diät? „Das wird den wirklich
Betroffenen nicht gerecht“, warnt Diplom-
Ökotrophologin Imke Reese.
„Denn viele, die glauben, dass sie krank
sind, haben auch etwas. Nur deckt sich
die Verdachtsdiagnose nicht immer
mit dem tatsächlichen Auslöser der
Beschwerden.“
Die Ursachen für die Probleme
seien vielfältig: Falsche Ernährung
und Lebensführung dürften zu den
Hauptgründen gehören. Neue Studien
deuten etwa darauf hin, dass viele
„Glutensensitivitäten“, also die Unverträglichkeit
von Klebereiweiß in Getreide,
durch den Konsum von Alkohol
oder durch Stress ausgelöst werden.
„Das Lebensmittel-Angebot hat
sich zudem rapide geändert. Fertiggerichte
enthalten Geschmacksverstärker,
Süßgetränke Glucose-Ersatzstoffe, welche die Verdauung
überfordern“, warnt der Wiener Intoleranz-
Experte Albert Missbichler.
Vermeintlich gesunde Ernährungsformen
brächten viele Unverträglichkeitsreaktionen
überhaupt erst
ans Tageslicht. „Obst ist zwar gesund,
aber nur in bestimmten Mengen. Wer
zu viel davon isst oder trinkt, kann die
Fruktose nicht mehr aufnehmen und
bekommt Blähungen, Krämpfe oder
Durchfall“, sagt Ernährungstherapeutin
Imke Reese.
Die Nahrungsmittelindustrie jedenfalls
hat die Lebensmittelsensiblen
längst als lukrative
Zielgruppe entdeckt.
Sogenannte „Free
from ...“-Produkte
machen sich in den
Regalen breit – glutenfreies
Brot, fruktosefreier
Pudding,
laktosefreie Butter.
Die Konsumenten
greifen fleißig zu. Laut dem Milchindustrie-
Verband wächst der Umsatz
milchzuckerfreier „Milch“-Erzeugnisse
jährlich um bis zu 20 Prozent.
Brauchen wir
Lebensmittel mit
Zusatznutzen?
Der eine Trend setzt auf Reduktion,
der andere auf Zusätze. Mit ausgewählten
Inhaltsstoffen angereichert
werden Lebensmittel zu „Medikamenten“
stilisiert, die Schutz vor
Herzinfarkt, Krebs, Infektionen und
erhöhtem Cholesterin versprechen
oder „Entschlackung“ und „Darmreinigung“
bewirken sollen. Und so
trinken „Functional Food“-Jünger literweise
Vitaminsäfte, löffeln probiotisches
Joghurt oder schmieren sich
cholesterinsenkende Margarine fingerdick
aufs Brot.
Die Produkte stammen nicht vom
Bauern, sondern aus dem Labor. Der
Ursprung dafür liegt in Japan. Dort
dürfen entsprechend angereicherte
Waren seit 1991 unter der Bezeichnung
„tokuho“ (deutsch für: „Essen
für spezifischen Gesundheitsnutzen“)
vermarktet werden.
Aber können Brotaufstriche und
Joghurtdrinks wirklich körperliche
Beschwerden lindern? Oder profitiert
vor allem die Nahrungsmittelindustrie,
die damit Milliarden umsetzt?
Helmut Heseker, Präsident der Deut-
schen Gesellschaft für Ernährung,
sagt: „Oft entsteht der Eindruck, wir
würden an einem Vitaminmangel leiden,
das ist nicht der Fall. Allein ein
frischer Salat liefert eine Menge Vitamine.
Solange kein erhöhter Bedarf
besteht, bringt die Einnahme von
Functional Food keinen Vorteil.“ Ein
Zuviel würde sogar die Entstehung
von freien Radikalen verhindern, die
etwa Sportler für die Regeneration
der Muskeln benötigen.
Und so bleibt am Ende der Rat: Wer
sich im Dickicht der Ernährungsmaximen
zu verlaufen droht, sollte seinem
Bauchgefühl folgen. Denn wie
sinnvoll ist es, sich ständig um die Abwehr
potenziellen Schadens zu sorgen,
wenn dadurch die Lebensfreude
und der Genuss auf der Strecke
bleiben und obendrein der (Gesundheits-)
Nutzen fraglich ist?
Erschienen in: WIENERIN 3/15
Foto: Gunda Dittrich