
Die Genuss-Uni
In einem Dorf im Piemont wird natürlicher Genuss gelehrt und verteidigt. Wer sich der Slow-Food-Idee verbunden fühlt und an der Universtät für gastronomische Wissenschaften studiert, darf auf eine große Karriere hoffen. Aber erst mal wird gelernt und gekocht, gebraten und verkostet. Denn es geht nicht nur um den Abschluss im akademischen Schlaraffenland, es geht um viel mehr. Es geht darum, guten Geschmack in die ganze Welt zu tragen.
Der Duft von gepökeltem Fleisch hängt
in der Luft. Mit spitzen Fingern führt sich
Kelsey Farrell ein Stück hauchzart geschnittenen
Schinken an die Nase, macht
einen tiefen Atemzug, legt es zurück, notiert ein
paar Stichwörter. Essen wird die junge Frau aus Pennsylvania
die edle Wurstware nicht, denn Kelsey ist
Vegetarierin. Ganz anders ihre Kommilitonen: Die
kauen ausgiebig, schlucken, trinken aus der Mineralwasserflasche,
die vor ihnen auf dem Tisch steht.
Wie es schmeckt? „Süß“, meint ein junger Afrikaner.
Professor Mirco Marconi nickt zustimmend. Er zeigt
auf die Abbildung eines Stücks Fleisch, die an die
Wand projiziert wurde, und erklärt seinem internationalen
Publikum in einem Mix aus Englisch und Italinisch
die Geschmacksunterschiede zwischen gamba
(Bein), fiocco (Schenkel) und culatello (Hintern).
Dann lehrt der Biologe und diplomierte Verkoster
seine Studenten, dass sich exzellenter Schinken von
herkömmlichem durch die Zeit unterscheidet, die
man ihm zum Reifen gibt – ähnlich wie bei guten
Weinen.
Erkennbar sei das an kleinen weißen Punkten
im Fleisch: Enzymkristalle, die sich bei gemächlicher
Reifung bilden. Womit er beim Kern dessen ist, wofür
sein Brötchengeber steht.
Die Università degli Studi di Scienze Gastronomiche
(UNISG) in Pollenzo, einem Dorf im Piemont
(einen zweiten Standort gibt es in Colorno in der Emilia
Romagna), existiert seit 2004 und ist noch immer
einzigartig in ihrer Ausrichtung und Zielsetzung. „Wir
bilden keine Köche aus“, wird Carlo Petrini, der prominente
Gründer, nicht müde zu betonen. Vielmehr
sollen in einem dreijährigen Bachelor-Lehrgang,
einem zweijährigen Aufbaustudium und einem einjährigen
Master-Programm in „Food Culture and
Communications“ Gastronomen ausgebildet werden,
die als Ernährungsmanager, Restaurantleiter, Forscher,
Qualitätsexperten und Journalisten helfen, den
weltweiten Siegeszug der Fast-Food-Unternehmen
zu stoppen. Unterrichtet werden sie in Fächern wie
Molekularwissenschaft, Lebensmittelrecht, Ästhetik
und Philosophie des Geschmacks, Ethnobotanik und
Food Labeling.
Der Grundstein für die Gourmetschule wurde in
den späten achtziger Jahren gelegt. Von dem Journalisten,
Linken-Politiker und Genussmenschen Petrini
(Jahrgang 1949), der in seinem Geburtsort Bra die
Slow-Food-Bewegung ins Rollen gebracht hat. Bis
heute steht die Weinbergschnecke als Symbol für
Langsamkeit und Beharrlichkeit im Emblem, und sein
Prinzip des „Gut, sauber, fair“ hat Petrini weltweit zu
einem Helden der Gourmetszene gemacht. Die sonst
gelassene New York Times nannte seinen Verein
denn auch das „Greenpeace des guten Geschmacks“.
Ein kleiner Spalt in den geschlossenen Jalousien des Vorlesungssaals
gibt den Blick nach draußen frei. Zwei Frauen spazieren
über die Pflastersteine auf der Piazza Vittorio Emanuele,
umgeben von neugotischem Backsteingemäuer. Die Könige von
Savoyen, sagt man, ließen dort einst Rinder, Getreide und Wein
veredeln. Die Aura der Räumlichkeiten könnte also passender
nicht sein. Und auch die Region vor den Toren des Campus, mit
dem nahegelegenen Trüffelgebiet Alba und den sanften Weinhängen
des Barolo, bildet einen perfekten Rahmen.
Es ist ein elitärer Kreis, der sich hier versammelt. Von den
rund 500 Bewerbern werden pro Jahr nur 60 aufgenommen.
Unter den Kandidaten sind Rechtsanwälte, Finanzberater und
Architekten, die ihre gut gehenden Jobs an den Nagel hängen
wollen, um einer späten Berufung als Ernährungsguru zu folgen.
Ein amerikanischer Mediziner ist dafür gleich
mit seiner ganzen Familie nach Norditalien gezogen.
Ausreichende Englischkenntnisse und ein überzeugendes
Motivationsschreiben entscheiden über die
Zulassung. Sinnsucher sind nicht so gefragt,
künftige
Botschafter der guten Esskultur umso mehr. Und
weil
die Genuss-Kunde möglichst weit getragen werden
soll, ist der Vorlesungssaal bunt besetzt – 70 Nationen
waren bereits vertreten Italiener, US-Amerikaner
und Deutsche stellen die größte Gruppe. Es gibt aber
auch Teilnehmer aus Tadschikistan, von den Philippinen,
aus Syrien und Mauretanien.
Philip Amoah kommt aus Ghana. „Der Schinken
schmeckt vorzüglich“, kommentiert der Master-Student
im Flüsterton, um den Unterricht nicht zu stören.
Die Studiengebühren von 19 000 Euro jährlich kann
er nicht aus eigener Tasche bezahlen. Darin
enthalten
sind Kost und Logis, ein Notebook, freier Internetzugang
und 15 Exkursionen pro Jahr. Die Studienreisen
führen zu umliegenden Bauernhöfen und Kooperativen,
aber auch zu Rum-Destillerien auf Kuba,
Arganöl-Betrieben in Marokko und Kaffeeplantagen
in Costa Rica. Die internationale Organisation „La Via Campesina“ sponsert jährlich zwei Plätze für afrikanische
Hoffnungsträger. Philip Amoah, der bereits einen Abschluss in
Natural Resource Management besitzt und als Qualitätskontrolleur
gearbeitet hat, konnte einen davon ergattern. Nach der
erstklassigen Ausbildung, die ihn zum ersten Mal überhaupt ins
Ausland führte, wird er in der Heimat ein so gefragter wie gemachter
Mann sein. In den vergangenen Monaten hat Amoah
seine Liebe zu koreanischen Nudeln, zur Food-Philosophie und
zu Radieschen entdeckt. Letztere wachsen in einem der Gemüsebeete,
die er zweimal pro Woche betreut. Das macht er zwar
gern, aber nicht ganz freiwillig. Stipendiaten wie er, die etwa ein
Drittel der Studentenschaft ausmachen, sind dazu verpflichtet,
Arbeitsstunden abzuleisten. Alternativ hätte er sich auch für
einen Platz in der Verwaltung, im Küchendienst oder im Service
der Mensa bewerben können.
Einen Küchenjob ersehnen viele, denn hier gibt es – das
beteuert beharrlich und glaubhaft Gründer Petrini – die wohl beste
Mensa der Welt. In den „Tavole Accademiche“, untergebracht
in den ehemaligen Stallungen, wird saisonal, lokal und kostengünstig
gekocht. Ein komplettes Menü, das einem Sterne-Essen
kaum nachsteht, ist für rund zehn Euro zu haben. Heute auf
dem Speiseplan: Spaghetti alla chitarra mit Tomaten und Basilikum,
Risotto in zimino mit Mangold und Leccia-Fisch mit Zucchini.
Neben den Stipendiaten stehen vor allem Ex-Studenten
am Herd, die so ihre Zeit an der Uni sinnvoll verlängern, gegen
freie Kost und Logis. An ihrer Seite braten wechselnde Spitzenköche
aus aller Welt: Der spanische Molekularküchen-Gott
Ferran Adrià war schon hier, Marc Haeberlin aus der Michelin-
Stern-Dynastie der elsässischen Auberge de l’Ill und auch Alex
Atala, tätowierter Ex-Punkrocker aus São Paulo, der in seinem
Restaurant D.O.M. (Platz sechs der Weltbestenliste) gern Ameise
auf Ananas serviert. Wenn Petrini ruft, kommen sie alle. In
der Mensaküche wird eine strenge Null-Müll-Politik betrieben.
Plätze und Portionen sind am Vortag per Online-Anmeldung zu
reservieren, via E-Mail wird über Restbestände informiert, die
es als Doggy-Bag zum Mitnehmen gibt. Lebensmittel wegwerfen?
Ein Sakrileg in diesen Hallen.
„Das habe ich hier auch gelernt: Lebensmittel wertzuschätzen,
bewusst einzukaufen und alles zu verkochen“, erzählt Clara
Maria Graf. Die Münchnerin würde später gern als Einkäuferin
für eine der zwei großen heimischen Delikatessen-Bastionen arbeiten.
Und die 26-Jährige hat beste Aussichten, die Zukunftschancen
der Absolventen sind rosig. 90 Prozent der Abgänger
finden binnen sechs Monaten einen passenden Job – was auch
den exzellenten Kontakten der Hochschule zu verdanken ist.
So bauen einige Absolventen für den Nahrungsmittelhersteller
Barilla das Marketing in Asien und Afrika auf, andere fördern
die Ernährungserziehung in Südkorea, werden FoodBlogger in
Vancouver oder Bio-Bauern in Georgia. Einer organisiert das
Catering der Formel 1, ein anderer forscht im Nordic
Food Lab in Kopenhagen, das zum Noma gehört,
dem weltbesten Restaurant der vergangenen Jahre.
Auch Amoah hat schon konkrete Vorstellungen davon,
was er nach seinem Abschluss machen wird.
Als Teil des Projekts „10 000 Obst- und Gemüsegärten
für Afrika“ will er in Ghana einen Schulgarten
errichten,
den ersten in seinem Heimatland.
Am Nachmittag geht es für einige Studenten
erst mal auf ein italienisches Feld, das wenige Kilometer
vom historischen Universitätsgelände entfernt
liegt. Ein kleines Grüppchen macht sich für das
Unterrichtsfach Foraging auf die Suche nach Nahrung
für das Abendessen. Professor Andrea Pieroni
streift mit ihnen durch das Gelände. Jedes Kräutlein
scheint der Ethnobotaniker schon von Weitem zu erkennen.
„Sprossen vom Hopfen, wilder Amaranth,
Gänsefuß, Leimkraut“, ruft der Mann im gelben Hemd,
und seine Schützlinge stopfen das Zeug in große
Bastkörbe. Der Lehrer wiederholt die Aufgabe: „Es
gilt, essbare Pflanzen zu sammeln, zu identifizieren
und sie später auf Basis der Volkstradition des Piemont
möglichst kreativ zu verarbeiten.“ In der nahe
gelegenen Versuchsküche der Società Gastronomiche
stehen dazu Grundnahrungsmittel wie Mehl,
Milch, Butter und Reis bereit. Eigentlich ist die Küche
zu klein für die zehn Personen, doch irgendwie
scheint jeder einen Platz zu finden. Es wird geschnippelt,
gebraten, gedünstet, gescherzt, gelacht
und immer wieder mit einem Glas Rotwein angestoßen.
Die Mägen knurren, als das Kräuterbuffet gegen
22 Uhr endlich eröffnet wird. Es kommt, wie es
kommen soll und muss: Erst weit nach Mitternacht
tritt der letzte Student den Heimweg an.
Die Vegetarierin Kelsey Farrell schläft zu dieser
Zeit schon. Womöglich träumt sie davon, einen Redakteursjob
im Food-Ressort der New York Times zu
ergattern, wie das einer Uni-Absolventin aus Neuseeland
gelang. Bis dahin lässt sie mit dem Food-Blog
bonpainpastryanne.blogspot.de die Welt an ihrer Ausbildung
teilhaben, an schönen Gerichten und spannenden
Reisen, am „Flow der Bra-Booble“, wie die
junge Amerikanerin es nennt. Damit trifft sie den
Gründungsgedanken der Universität für gastronomische
Wissenschaften, der sich seinen Weg um den
Globus bahnt. Mit der Beharrlichkeit einer Schnecke.
Erschienen in: Lufthansa Exclusive 4/15
Foto: Stefano Scatà